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Neujahrsvorsätze Ade! Eine Trauma-sensible Perspektive auf Veränderung und Wachstum

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
31.12.24
14 Minuten Lesezeit
Eine Wand voller bunter Post-Its mit Affirmationen und Bestärkungen.

Willst du auch gesünder, entspannter und glücklicher sein im neuen Jahr? Kurz vor Silvester ist das Internet wieder voll von Impulsen zu Neujahrsvorsätzen und Angeboten, die uns versprechen, diese erfolgreich umzusetzen. Und vielleicht kennst du das auch: Du nimmst dir vor, endlich mehr Sport zu treiben, gesünder zu essen oder diese eine Aufgabe anzugehen, die schon ewig auf deiner To-Do-Liste steht.

In diesem Artikel möchte ich mit dir einen Trauma-sensiblen und Nervensystem-informierten Blick darauf werfen, warum diese Vorsätze oft nicht nachhaltig sind – und was wir stattdessen tun können, um gesunder, entspannter und glücklicher im neuen Jahr zu sein!

Die Frage nach den Neujahrsvorsätzen und der damit entstehende Druck

Grundsätzlich kann ich es total nachvollziehen: Der Jahreswechsel lädt uns ein, darüber nachzudenken, was wir im kommenden Jahr anders machen wollen. Das Konzept der Neujahrsvorsätze erscheint hier erstmal total sinnvoll!

Aber lass uns mal ehrlich sein: Wie oft haben diese Vorsätze wirklich zu nachhaltigen Veränderungen in deinem Leben geführt? Und vor allem: Wie oft haben sie dich einfach nur unter Druck gesetzt und dein Nervensystem zusätzlich belastet?

Warum setzen wir uns überhaupt Ziele oder Vorsätze fürs neue Jahr?

Die Geschichte der Neujahrsvorsätze reicht bis zu den Babyloniern zurück, etwa 2.000 vor Christus. Im Gegensatz zu uns, die wir Neujahr im tiefsten Winter "feiern" – wenn unser Nervensystem eigentlich nach Ruhe und Regeneration verlangt – feierten die Babylonier das neue Jahr im März, mit dem Beginn des Frühlings. Ihre "Neujahrsvorsätze" waren dabei eher Versprechen an die Götter als individuelle Ziele.

Auch im Christentum war der Jahresbeginn ursprünglich ein Zeitpunkt für Beichte und Buße. Der Fokus lag auf der Verbesserung des moralischen Lebens.

Heute sind Neujahrsvorsätze oft Teil einer kapitalistisch geprägten Kultur der ständigen Selbstoptimierung. Wir leben in einem System, das uns suggeriert, wir müssten uns permanent verbessern und weiterentwickeln. Dieses System berücksichtigt dabei weder unsere individuellen Lebensrealitäten noch die unterschiedlichen Privilegien und Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen.

Eine persönliche Reflexion zu Neujahrsvorsätzen

Starten wir mit einem positiven Aspekt: Du bist definitiv nicht allein!

Ich habe mir fast zwei Jahrzehnte lang, in meiner Jugend beginnend, Neujahrsvorsätze gesetzt – und wenn ich ehrlich mit dir sein darf, habe ich es bis heute nicht einmal geschafft, meine gesetzten Neujahrsvorsätze vollständig umzusetzen. Meist ist meine Motivation irgendwo (relativ früh) auf dem Weg eingeschlafen – oder das Leben ist dazwischen gekommen…

Und es sind auch nicht nur Du und Ich! 😉 Die meisten Neujahrsvorsätze scheitern, bevor das Jahr überhaupt richtig begonnen hat. Es gibt den so genannten "Wirf-deine-Jahresvorsätze-über-Board-Tag" am 17. Januar – der Tag, an dem statistisch die meisten Menschen ihre Vorsätze schon wieder aufgegeben haben.

Das Problem mit gebrochenen Neujahrsvorsätzen geht dabei jedoch viel tiefer als nur das Nicht-Erreichen eines Ziels. Wenn wir unsere Vorsätze nicht einhalten können, aktiviert das oft alte Glaubensmuster wie "Ich bin nicht gut genug" oder "Ich kann nichts zu Ende bringen". Aus der Perspektive des Nervensystems betrachtet, bringen wir uns damit in einen Zustand der Dysregulation, der weiteres Wachstum im Zweifel sogar verhindert.

Eine Nervensystem-informierte Perspektive auf das Scheitern von Vorsätzen

Aus der Perspektive des Nervensystems gibt es mehrere Gründe, warum Neujahrsvorsätze oft nicht funktionieren:

1. Fehlende Verbindung zur inneren Motivation

Viele Vorsätze kommen nicht wirklich von innen, sondern sind durch äußere Erwartungen, gesellschaftlichen Druck und unsere verinnerlichte Scham geprägt. Unser Körper, der diese Scham ja (er)lebt, reagiert mit Widerstand, was Stress im Nervensystem auslöst.

Damit verbunden ist häufig auch der nächste Punkt.

2. Die Überforderung des Nervensystems

Besonders wenn wir ohnehin schon viel Stress und Belastung erleben, können zusätzliche Anforderungen unser System überfordern. Ein überfordertes Nervensystem wird sich immer erst einmal schützen wollen, bevor es Veränderungen zulässt.

Ein Beispiel dazu: Die Gesellschaft, die Werbung oder deine Familie geben dir immer wieder das Gefühl, dass du eigentlich abnehmen müsstest (äußere Erwartungen und gesellschaftlicher Druck). Es entwickelt sich ein Schamgefühl für deinen Körper, das dich einerseits kurzfristig veranlasst, einen Diätplan aufzustellen, andererseits dein Nervensystem aber in einem Zustand der Dysregulation führt, weshalb sich dein System nicht mehr sicher fühlen kann. Unsicherheit bedeutet für dein Nervensystem vor allem, Angst nicht zu überleben!

Und um dein Überleben sicherzustellen (und das ist das erste und wichtigstes Ziel deines Nervensystems), greift dein System alte Muster und Verhaltensweisen zurück (mit denen hat dein System ja bereits die Erfahrung gemacht, dass ihr überleben könnt). Das heißt, du isst abends die Tüte Chips oder bestellst dir Essen, obwohl du eigentlich von jetzt an „frisch und gesund“ kochen wolltest.  

Gleichzeitig wächst die Scham in dir, dass du deine Vorsätze nicht einhältst und der Stress in deinem Nervensystem steigt. Es ist ein Teufelskreis!

Das führt auch gleich zum nächsten Punkt:

3. Vernachlässigung des Sicherheitsbedürfnisses

Veränderung bedeutet für dein Nervensystem immer Unsicherheit (weil die neuen Verhaltensweisen oder Muster noch nicht bewiesen haben, dass du damit überleben kannst). Wenn sich dein Nervensystem nicht sicher genug fühlt, wird es Veränderungen immer eher blockieren als unterstützen!

Und schließlich dürfen wir auch noch einen anderen Aspekt nicht außer Acht lassen:

4. Mangelnde Berücksichtigung systemischer Barrieren

Oft ignorieren wir die realen Hindernisse in unserem Leben, die es uns nicht ermöglichen oder zumindest deutlich erschweren unsere Vorsätze umzusetzen – seien es finanzielle Einschränkungen, zeitliche Ressourcen oder strukturelle Benachteiligungen. Diese können unser Nervensystem zusätzlich belasten.

Eine Trauma-sensible Alternative zu Neujahrsvorsätzen

Statt uns selbst unter Druck zu setzen, können wir einen sanfteren, Trauma-sensiblen Weg wählen, der unser Nervensystem unterstützt:

1. Entwickle ein Bewusstsein für dein Nervensystem

Reflektiere zunächst einmal, wie dein System auf Veränderungen reagiert. Wann fühlst du dich sicher genug für neue Schritte und Veränderungen? Wann brauchst du mehr Unterstützung oder eine Pause? Entwickle ein Bewusstsein, wann dein Nervensystem in einem offenen und neugierigen Zustand ist, um sich auf Veränderungen einlassen zu können.

2. Schaffe Sicherheit statt Druck

Ein wichtiger Schritt ist es, Sicherheit für unser Nervensystem zu etablieren. Dies gelingt am besten durch kleine, überschaubare Routinen statt großer Veränderungen. Achte dabei besonders auf die Signale deines Körpers - er wird dir zeigen, wann du eine Pause brauchst oder wann du das Tempo reduzieren solltest. Erlaube dir diese Pausen und Anpassungen, denn sie sind keine Zeichen von Schwäche, sondern von Selbstfürsorge.

3. Berücksichtige deine Ressourcen und Privilegien

Ein oft übersehener Aspekt ist die ehrliche Auseinandersetzung mit unseren verfügbaren Ressourcen. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Möglichkeiten für Veränderung – sei es aufgrund von Zeit, Geld, Gesundheit oder anderen Faktoren. Wichtig ist, dass du deine Ziele an deine reale Lebenssituation anpasst und dir dabei bewusst machst, welche Privilegien und Einschränkungen dein Leben prägen.

4. Fokussiere Selbstfürsorge statt Selbstoptimierung

Und schließlich: Statt dich an äußeren Standards zu messen, nimm dir Zeit zu erkunden, was du wirklich brauchst und möchtest. Entwickle eine mitfühlende innere Stimme, die dich auf deinem Weg begleitet und unterstützt. Lerne, auch kleine Erfolge und Fortschritte zu feiern – denn jeder Schritt in Richtung mehr Selbstfürsorge ist wertvoll.

Ein neuer Blick auf persönliches Wachstum

Statt der traditionellen Neujahrsvorsätze möchte ich dich einladen, das neue Jahr anders anzugehen. Dafür habe ich hier noch ein paar allgemeine Impulse, die dich hoffentlich unterstützen, einen neuen Blick auf dein persönliches Wachstum zu werfen.

Setze auf Nachhaltigkeit: Nachhaltige Veränderung braucht Zeit und Geduld. Kleine, beständige Schritte sind nicht nur leichter umzusetzen, sie führen auch zu nachhaltigeren Veränderungen als große Sprünge, die uns überfordern. Denk daran: Auch ein kleiner Schritt in die richtige Richtung ist ein Fortschritt.

Frage dich bei jedem Schritt: Ist das etwas, das ich langfristig in meinen Alltag integrieren kann (und möchte)?

Bleibe in der Verbindung mit deinem Körper: Dein Körper und dein Nervensystem sind deine wichtigsten Wegweiser auf der Reise der Veränderung. Lerne ihre Signale zu verstehen und zu respektieren. Nimm dir regelmäßig Zeit, nach innen zu spüren und zu überprüfen: Fühlt sich dieser Weg stimmig an? Brauche ich eine Pause oder eine Anpassung?

Praktiziere Mitgefühl mit dir selbst: Veränderung ist selten ein linearer Prozess. Es wird Tage geben, an denen es dir leichtfällt, und andere, an denen alte Muster stärker sind. Ich möchte dich so sehr ermutigen, eine geduldige, verständnisvolle Haltung dir selbst gegenüber zu entwickeln. Erinnere dich daran, dass Rückschritte normal sind und oft wichtige Lernerfahrungen enthalten.

Schaffe die eine liebevolle Gemeinschaft: Der Weg der Veränderung muss nicht einsam sein. Suche dir Menschen und Gemeinschaften, die deine Werte teilen und dich auf deinem Weg bestärken. Ein unterstützendes Umfeld kann dir Halt geben, wenn Zweifel auftauchen, und dich inspirieren, wenn du neue Perspektiven brauchst.

Mein persönlicher Weg: Die Magie der Rauhnächte

Zum Abschluss mag ich noch meinen eigenen Weg mit dir teilen. Statt klassischer Neujahrsvorsätze habe ich nämlich vor einigen Jahren begonnen, einen anderen Weg zu gehen: Ich nutze die Zeit der Rauhnächte – jene magischen Tage zwischen Wintersonnenwende und dem 6. Januar, in denen der Schleier zur Anderswelt besonders dünn ist. In dieser Zeit sammle ich bewusst Impulse und Ideen für das kommende Jahr, ohne mich dabei unter Druck zu setzen, sie sofort umsetzen zu müssen.

Diese Impulse fließen dann in ein Vision Board ein, das die Energie und Vision widerspiegelt, die ich für das neue Jahr erleben und verkörpern möchte. Dabei geht es weniger um konkrete Ziele als vielmehr um ein Gefühl, eine Richtung, in die ich mich entwickeln möchte.

Der eigentliche Start ins neue Jahr beginnt für mich erst im Frühling, wenn auch die Natur wieder erwacht. Dann schaue ich mir die gesammelten Impulse noch einmal an und beginne sanft, diejenigen in meinen Alltag zu integrieren, die sich noch stimmig anfühlen. Dieser Ansatz respektiert für mich die natürlichen Rhythmen – sowohl die der Natur als auch die meines Körpers.

Ein paar abschließende Gedanken für dich

Veränderung ist möglich – aber sie geschieht oft anders, als wir es uns vorstellen. Statt uns von gesellschaftlichen Erwartungen und kapitalistischen Optimierungsversprechen unter Druck setzen zu lassen, können wir einen Weg wählen, der unser Nervensystem unterstützt und unsere individuellen Lebensrealitäten respektiert.

Ich lade dich ein, deine Erfahrungen mit Neujahrsvorsätzen in den Kommentaren zu teilen. Wie gehst du mit dem gesellschaftlichen Druck zur Selbstoptimierung um? Welche alternativen Wege hast du für dich gefunden? Ich freue mich von dir zu hören!

Alles Liebe,

deine Svenja

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
31.12.24
14 Minuten Lesezeit