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Trauma Verstehen und Heilen – eine Einführung aus der Perspektive des Nervensystems

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
19.11.24
10 Minuten Lesezeit
Eine Person wandert an der Küste in einem aus Steinen gelegten Labyrinth. Im Hintergrund das Meer.

Das Thema „Trauma“ ist aktuell sehr präsent und viele Coaches und Therapeut*innen sprechen offen darüber. Das ist wundervoll, denn ein tieferes Verständnis von Trauma ist nicht nur für Menschen wichtig, die selbst traumatische Erfahrungen gemacht haben, sondern für uns alle - es hilft uns, mitfühlender mit uns selbst und anderen umzugehen. In diesem Blogartikel möchte ich dir eine Einführung in das Thema Trauma mit Blick auf unser Nervensystem geben.

Über das Nervensystem habe ich bereits in folgenden Artikel geschrieben – ich empfehle dir diese ebenfalls zu lesen, wenn du dich für das Thema interessiert:

Was ist Trauma?

Trauma ist mehr als nur ein schwieriges Erlebnis. Es ist eine Erfahrung, die unser Nervensystem überwältigt und unsere normalen Bewältigungsmechanismen überfordert. Wenn wir Trauma erleben, geht unser Nervensystem in einen Überlebensmodus – oft in einen Zustand von Kampf, Flucht oder Erstarrung, wie wir es in der Polyvagal-Theorie kennengelernt haben.

Trauma ist mehr als nur ein schwieriges Erlebnis, das eine Person einmal erlebt hat.

Aus der Perspektive des Nervensystems entsteht ein Trauma dann, wenn eine Situation eines oder mehrere der folgenden Merkmale aufweist:

  • zu viel (zu viele Eindrücke auf einmal)
  • zu schnell (wir können nicht auf das reagieren, was passiert)
  • zu plötzlich (wir sind nicht vorbereitet)

Manchmal reichen schon ein oder zwei dieser "Gifte" aus, dass unser Nervensystem die Situation nicht verarbeiten kann. Das Ergebnis ist ein chronischer Schock - unser System kommt nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Überlebensmodus heraus.

Wie Trauma entsteht

Wir können grundsätzlich zwei Arten von Trauma unterscheiden:

Ein Schocktrauma entsteht typischerweise durch ein einzelnes Ereignis wie einen Unfall, einen Überfall oder eine Naturkatastrophe. Die Trauma-Energie aus diesem einen Auslöser ist im Körper gespeichert und kann mit professioneller Unterstützung wieder gelöst werden.

Ein Entwicklungstrauma hingegen entsteht meist in der Kindheit durch anhaltende Umstände oder wiederholte Ereignisse. Hier ist nicht nur ein chronischer Schock im Nervensystem entstanden, sondern auch eine Störung der Entwicklungsstufe. Die Heilung ist komplexer, da die ursprünglichen Entwicklungsaufgaben unter gesunden Bedingungen nachgeholt werden müssen.

Wie Trauma im Nervensystem "stecken" bleibt

Wenn wir eine traumatische Situation erleben, geht unser Nervensystem in einen Überlebensmodus - oft in einen Zustand von Kampf, Flucht oder Erstarrung.

Das Problematische bei Trauma ist: Auch wenn die Situation längst vorbei ist, kann unser System in diesem aktivierten Zustand "stecken bleiben". Es reagiert dann weiterhin so, als wäre die Gefahr noch präsent – unser Nervensystem, dessen Sinn es ist, unser Überleben zu sichern, hat konstant das Gefühl, dass wir in (Lebens-)Gefahr sind!

Dies kann sich in verschiedenen Symptomen zeigen wie ständiger Wachsamkeit und Nervosität, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten oder körperlichen Beschwerden, Verspannungen und unerklärlichen Schmerzen. Für einige Menschen kommt auch ein grundlegendes Gefühl der Unsicherheit und Schwierigkeiten, sich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen, hinzu.

Der Weg zur Trauma-Heilung

An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen: In Deutschland dürfen nur ausgebildete Trauma-Therapeut*innen und Heilpraktiker*innen Trauma behandeln. Auch wenn viele Coaches und Breathworker Trauma-Heilung in ihrer Arbeit anbieten - ohne entsprechende Qualifikation ist dies nicht nur problematisch, sondern auch rechtlich nicht zulässig.

Ich selbst habe eine Ausbildung zum Somatic Experiencing Practitioner an der UTA Akademie in Köln absolviert, biete aber bewusst keine direkte Trauma-Heilung an. Stattdessen nutze ich Breathwork als unterstützendes Werkzeug beim Aufbau von Ressourcen und zur Stärkung der eigenen Körperverbindung - gerne auch in Kombination mit anderen Therapieformen und in Absprache mit den behandelnden Therapeut*innen.

Ein körper-orientierter Ansatz für Heilung: Somatic Experiencing

An dieser Stelle möchte ich dir die oben genannte Methode „Somatic Experiencing“ (SE) noch etwas genauer vorstellen. Es handelt sich hierbei um eine körper-orientierte Methode, die von Dr. Peter Levine entwickelt wurde und die davon ausgeht, dass Trauma nicht nur in unserem Geist, sondern vor allem in unserem Körper gespeichert wird.

SE fokussiert sich darauf, die im Körper "eingefrorene" Energie, die während des traumatischen Ereignisses nicht entladen werden konnte, sanft und schrittweise freizusetzen. Dabei geht es nicht darum, das Trauma noch einmal erleben zu müssen, sondern darum, dem Körper zu erlauben, natürliche Selbstregulierungsprozesse zu vollenden.

Kernprinzipien des Somatic Experiencing

Ressourcen aufbauen - Bevor du dich überhaupt mit traumatischem Material beschäftigen musst, werden in SE-Sitzungen in der Regel zunächst deine inneren Ressourcen gestärkt. Das können positive Erinnerungen, Orte der Sicherheit oder unterstützende Beziehungen sein. Diese Ressourcen dienen als sichere Anker, zu denen du immer wieder zurückkehren kannst , wenn die Arbeit herausfordernd wird.

Pendeln - Diese Technik beschreibt den bewussten Wechsel zwischen der Wahrnehmung von Stress oder Aktivierung und Momenten der Sicherheit und Entspannung. Stell dir vor, du näherst dich vorsichtig schwierigem Material an und kehrst dann wieder zu einem sicheren Ort zurück - wie eine sanfte Pendelbewegung. Diese Bewegung hilft dem Nervensystem, neue Wege der Regulation zu lernen und von aufkommenden Gefühlen nicht überfordert zu werden.

Titration – Im SE wird sich dem traumatischen Material in kleinen, verdaubaren Dosen genähert. Dies verhindert eine Überflutung des Nervensystems und ermöglicht eine sanfte, schrittweise Integration der Erfahrungen. Das Tempo bestimmst dabei immer du selbst.

Tracking – Während der SE-Sitzung beobachten du und der/die Practitioner aufmerksam deine körperlichen Empfindungen und Reaktionen. Wie verändert sich deine Atmung? Gibt es Bereiche von Anspannung oder Entspannung? Spürst du Wärme oder Kälte? Dieses achtsame Beobachten hilft dir, die Sprache deines Körpers besser zu verstehen und frühe Anzeichen von Überforderung zu erkennen.

Discharge – Und schließlich wird durch diese Methode eine sanfte Entladung aufgestauter Energien ermöglicht, die während der traumatischen Situation nicht freigesetzt werden konnte. Dies kann sich durch spontane Körperreaktionen wie leichtes Zittern, tiefes Atmen oder unwillkürliche Bewegungen zeigen. Diese natürlichen Entladungsprozesse werden behutsam unterstützt - immer in einem Tempo, das sich für dich sicher anfühlt.

Elemente eines erfolgreichen Heilungsprozesses

Mir ist ganz wichtig, hier einmal zu betonen, dass jeder Heilungsprozess individuell verläuft und anders aussieht. Die Heilung von Trauma ist eine Reise, die Zeit, Geduld und oft professionelle Unterstützung erfordert. Bitte sei liebevoll mit dir selbst und erlaube dir achtsam und behutsam durch den Prozess zu gehen.

Einige Elemente, die auf deinem Weg dabei wichtig sein können, sind folgende:

  1. Sicherheit schaffen: Der erste Schritt ist immer, ein Gefühl von Sicherheit im Hier und Jetzt zu etablieren. Dazu gehört auch, dass du dich mit der Person, die dich gegebenenfalls in deinem Prozess unterstützt, wohlfühlst beziehungsweise ihr vertraust.
  2. Körperwahrnehmung schulen: Je besser du deinen Körper spüren kannst, desto leichter wird es dir fallen, Stressreaktionen früh zu erkennen und zu regulieren. Die Arbeit mit deinem Körper und seinen Signalen sollte daher Teil deiner Heilungsreise sein.
  3. Selbstregulation üben: Techniken wie Breathwork, Meditation oder Bodyscans können dir helfen, dein Nervensystem zu beruhigen und wieder Ruhe in Situationen zu bringen, die stressig oder aktivierend sind.
  4. Soziale Verbindungen stärken: Viele unserer Verletzungen entstehen im Kontakt mit anderen Menschen – und können vor allem auch im Kontakt mit Menschen wieder geheilt werden. Sichere, unterstützende Beziehungen sind daher ein Schlüssel zur Heilung. Dabei bedarf es nicht unbedingt der direkten Auseinandersetzung oder Versöhnung mit den Menschen, die uns verletzt haben. Wir können Heilung auch in neuen Beziehungen erfahren.
  5. Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen: Weil es so wichtig ist und nicht unterschätzt werden sollte, schreibe ich es nochmal. Trauma-informierte Therapeut*innen oder Coaches können deinen Heilungsprozess maßgeblich unterstützen. Du musst nicht alles allein schaffen! Erlaube dir dafür auch Zeit, um die richtige Person zu finden – ich weiß, dass kann in unserem System schwer sein, wo du auf Therapieplätze zum Teil monatelang warten musst. Aber die Arbeit mit der für dich richtigen Therapeut*in kann deinen Prozess ungemein beschleunigen.

Breathwork als unterstützendes Werkzeug

Der bewusste Atem kann in der Trauma-Arbeit ein wertvolles unterstützendes Werkzeug sein. Durch sanfte Atemtechniken können wir lernen, uns wieder sicherer in unserem Körper zu fühlen und unser Nervensystem zu regulieren.

Wichtig ist dabei der behutsame Ansatz - es geht nicht um intensive, kathartische Erlebnisse, sondern um eine langsame, sichere Annäherung an unseren Körper und seine Empfindungen.

In meiner Arbeit lege ich großen Wert darauf, dass meine Klient*innen sich jederzeit sicher fühlen und selbst bestimmen können, wie tief sie gehen möchten.

Breathwork kann dir dabei helfen:

  • Dich zu erden und im Hier und Jetzt zu verankern;
  • Dein Nervensystem zu beruhigen und Entspannung zu fördern;
  • Deine Körperwahrnehmung zu schulen und subtile körperliche Signale besser wahrzunehmen;
  • Neue Ressourcen aufzubauen;
  • Die Verbindung zu dir selbst zu stärken.

Wenn dich die Arbeit mit dem Atem als Unterstützung auf deiner individuellen Reise interessiert, schau dir gerne einmal mein 1:1 Breathwork Coaching Angebot an.

Wichtige Hinweise für Betroffene

An dieser Stelle möchte ich noch einige wichtige Anlaufstellen mit dir teilen, die hilfreich sein können, wenn du selbst traumatische Erfahrungen gemacht hast und akute Unterstützung suchst:

  • Die bundesweite Telefonseelsorge ist 24 Stunden täglich erreichbar unter 0800/111 0 111
  • Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" ist ebenfalls rund um die Uhr erreichbar unter 116 016
  • Alternativ kannst du auch nach lokalen Trauma-Ambulanzen in deiner Nähe suchen, die findest du in der Regel gut, wenn du nach „Traumanetz“ + deinen Ort suchst

Diese Stellen können dir auch dabei helfen, qualifizierte Trauma-Therapeut*innen in deiner Nähe zu finden.

Bestärkende Worte zum Abschluss

Die Arbeit mit Trauma kann herausfordernd sein, aber sie birgt auch ein enormes Potenzial für Wachstum und Transformation. Indem wir verstehen, wie Trauma unser Nervensystem beeinflusst, und lernen, achtsam damit umzugehen, können wir nicht nur heilen, sondern auch eine tiefere Verbindung zu uns selbst und anderen entwickeln.

Wenn du selbst traumatische Erfahrungen gemacht hast, mag ich dir Mut zusprechen: Heilung ist möglich. Sei geduldig und mitfühlend mit dir selbst auf diesem Weg. Und scheue dich nicht, Unterstützung in Anspruch zu nehmen!

Hast du Erfahrungen mit körperorientierten Ansätzen in der Trauma-Arbeit gemacht? Oder hast du Fragen zu diesem Thema? Ich freue mich wie immer auf deine Gedanken und unseren Austausch in den Kommentaren.

Viele liebe Grüße,

deine Svenja

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
19.11.24
10 Minuten Lesezeit