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Die Balance zwischen Selbstfürsorge und Aktivismus in herausfordernden Zeiten

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
12.11.24
15 Minuten Lesezeit
Eine Person mit Hut steht in einem Wald und umarmt einen Baum.

Wir befinden uns in Zeiten großer politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Während viele Menschen von den regionalen und globalen Herausforderungen, Katastrophen und Nachrichten überwältigt sind und sich vielleicht sogar ohnmächtig fühlen, ist es immens wichtig, dass wir trotzdem aktiv werden! Dabei müssen wir auch gut auf uns selbst achten. In diesem Artikel teile ich einige Gedanken und praktische Impulse, die dir helfen können, deinen eigenen Weg zwischen notwendiger Pause und aktivem Engagement zu finden.

Hinweis: Dieser Artikel enthält Bezüge zu aktuellen politischen Ereignissen, die für viele Menschen emotional belastend sein können, insbesondere für Angehörige marginalisierter Gruppen. Ich teile sowohl persönliche Gedanken als auch praktische Impulse zur Selbstfürsorge und zum aktiven Engagement. Gleichzeitig gelten diese Gedanken und Impulse nicht nur für die aktuelle politische Situation, sondern können übergeordnet für herausfordernde Zeiten angewendet werden!

Die vergangene Woche hat viele von uns erschüttert: Innerhalb eines Tages wurde erst ein verurteilter Verbrecher erneut zum Präsidenten der USA gewählt, dann wurde mit Entlassung des Bundesfinanzministers die Ampel-Koalition aufgelöst, was zu Neuwahlen des Bundestags und einer neuen Regierung voraussichtlich im Frühjahr 2025 führen wird. Und während wir einerseits versuchen müssen, unseren Alltag weiterzuleben, sind viele Menschen stark von diesen politischen Ereignissen und ihren nachhaltigen Auswirkungen auf unseren Alltag betroffen.

Was hat das alles mit dem Atem zu tun?

Ich würde gern schreiben "Lass uns einfach ein paar tiefe Atemzüge nehmen, dann sieht alles nicht mehr so schlimm aus!" – aber das wäre vor allem eine Einladung zum "Bypassing".

Bypassing bedeutet, mit welchen Tools auch immer zu versuchen, tatsächliche Gefühle zu unterdrücken oder ihnen auszuweichen. Das mag kurzfristig Erleichterung verschaffen, hält aber langfristig unser Nervensystem in einem dysregulierten Zustand gefangen.

Der Unterschied zwischen Bypassing und einer gesunden Selbstfürsorge liegt in der Intention: Bypassing versucht, unangenehme Gefühle zu vermeiden oder zu überspringen. Gesunde Selbstfürsorge hingegen erkennt diese Gefühle an und schafft einen sicheren Rahmen, um sie zu verarbeiten.

Dein Atem kann dabei ein kraftvoller Anker sein – nicht um Gefühle zu unterdrücken, sondern um dich zu erden und in Verbindung mit dir selbst und anderen zu bleiben. Genau dafür mache ich meine Arbeit!

Die Wichtigkeit von Selbstfürsorge in bewegten Zeiten

Falls du gerade das Gefühl hast, du möchtest am liebsten den Kopf in den Sand stecken, kann ich das absolut verstehen

Gleichzeitig spüre ich, wie wichtig es ist, dass wir jetzt nicht in eine lähmende Angststarre oder Ohnmacht verfallen oder uns dem Gefühl hingeben, dass bereits alles verloren ist.

Gerade jetzt ist es wichtig, besonders gut für uns selbst zu sorgen. Nicht um die Realität auszublenden, sondern um die Kraft zu haben, uns den Herausforderungen zu stellen und selbst aktiv zu werden!

Ein persönlicher Einblick in meine Balance

Bevor ich dir weitere praktische Impulse mitgebe, möchte ich einen Einblick teilen, wie ich selbst in den letzten Tagen versucht habe, diese Balance zwischen Selbstfürsorge und Aktivwerden zu finden.

Nach den Nachrichten der letzten Woche habe ich mir bewusst Zeit genommen, um erst einmal meine Gefühle zu spüren und zu verarbeiten. In intensiven Gesprächen mit mir nahestehenden lieben Menschen konnte ich meiner Wut, Sorge und Frustration Raum geben. Gleichzeitig habe ich versucht so bewusst wie möglich für meine Selbstfürsorge zu sorgen: Ich habe Musik gehört, die mir Kraft gibt (mein Lieblingslied gerade: "Only the Young" von Taylor Swift – ein Lied, das jungen Menschen Mut macht, trotz enttäuschender politischer Ereignisse die Hoffnung nicht zu verlieren), habe kleine Bewegungseinheiten in meinen Tag eingebaut und mir bewusst Zeit zum Kuscheln mit meinem Partner genommen, um aus der anfänglichen Starre meines Nervensystems herauszukommen.

Diese Kombination aus Gefühlsarbeit und Selbstfürsorge hat mir geholfen, wieder ins Handeln zu kommen: Ich habe diesen Text geschrieben (und ihn bereits vor einigen Tagen in meinem Breathing Letter an meine Community geschickt); ich habe recherchiert, wie ich mein bereits bestehendes politisches Engagement (ich bin Mitglied einer Partei) noch ausweiten kann, und mich mit Kolleginnen über mögliche Kooperationen ausgetauscht. Außerdem arbeite ich bereits an neuen Angeboten, die meine Community dabei unterstützen sollen, ihre eigene Resilienz zu stärken.

Praktische Impulse für deine Selbstfürsorge

Was für mich funktioniert, muss nicht unbedingt auch für dich funktionieren. Daher möchte ich an dieser Stelle noch einige allgemeinere Impulse mit dir teilen, die dich unterstützen können, wenn gerade alles sehr viel erscheint. Du musst nicht alle Impulse umsetzen – wähle die, die für dich besonders wirkungsvoll sind – oder auch einfacher umzusetzen sind als die anderen!

Bewusster Medienkonsum

Ich habe es die letzten Tage selbst gemerkt – da ist ein Drang, konstant auf dem neuesten Stand sein zu wollen. Als könnte uns das die Kontrolle geben, die wir uns wünschen. Aber seien wir ehrlich: Diese Kontrolle ist eine Illusion. Ich habe für mich festgestellt, dass es mir besser geht, wenn ich Nachrichten sehr dosiert und bewusst konsumiere, statt in einem ständigen Notfall-Modus zu verweilen und alle paar Minuten nach neuen (schlechten) Nachrichten Ausschau zu halten.

Bewegung und Naturverbindung als Ressourcen

In herausfordernden Situationen kreisen unsere Gedanken oft ununterbrochen um potentielle Gefahren, unser Nervensystem ist aktiviert und kommt nicht zur Ruhe, und für manche Menschen fühlt es sich sogar an, als wären sie in ihrer Angst oder ihren Gedanken gefangen beziehungsweise ihr Körper eingefroren.

Um aus dieser Starre herauszukommen, können Bewegungen helfen, die angestaute Energie im Körper zu lösen. Das müssen keine langen Sporteinheiten sein – schon fünf Minuten Stretchen, Tanzen oder einfach die Gelenke kreisen können Wunder wirken.

Eine weitere Möglichkeit ist es, aus dem Trubel raus an die frische Luft zu gehen – Idealerweise in die Natur, wo es grün ist. Das kann dem Nervensystem helfen, sich zu entspannen und die nötige Ruhe und Klarheit wieder zu finden (und meist ist das ja auch direkt mit Bewegung verbunden).

Emotionale Verarbeitung

So schwer es uns aktuell auch fallen mag – Traurigkeit, Fassungslosigkeit, Wut – diese Gefühle müssen gefühlt werden. Wenn nicht, bleiben sie im Körper und versetzen uns in eine Starre. Erst wenn wir sie wirklich zulassen und ihnen Raum geben, können sie sich wandeln und uns in Bewegung bringen.

Wenn du mehr über die Verbindung zwischen Emotionen und unserem Nervensystem erfahren möchtest, lies gerne diesen Artikel über unser Nervensystem. Wenn es dir alleine schwerfällt, in den Kontakt mit deinen Gefühlen zu kommen und ihnen Raum zu geben, kannst du dich auch sehr gerne für 1:1 Breathwork Coaching Sessions bei mir melden.

Kreative Ausdrucksformen

Ob durch Malen, Schreiben oder Musik – kreative Ausdrucksformen können helfen, das zu verarbeiten, was gerade in uns vorgeht. Es gibt hier wirklich kein Richtig oder Falsch. Folge deinen Impulsen und lebe deine Empfindungen und Gefühle auf die dir passende Art und Weise aus!

Dankbarkeit kultivieren & Erfolge feiern

Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, die positiven Momente nicht aus den Augen zu verlieren, sondern bewusst festzuhalten. Ich habe (nach einer längeren Pause) wieder angefangen, abends drei gute Dinge des Tages zu notieren – egal wie klein sie erscheinen mögen. Mache dir bewusst, was am Tag alles gut gelaufen ist und wofür du dankbar bist.

Atempraxis etablieren

Und natürlich darf unser Atem am Ende in dieser Aufzählung auch nicht fehlen: Nutze deinen Atem – du hast ihn immer bei dir! Drei bewusste Atemzüge zwischendurch können dir und deinem Nervensystem schon ein Anker sein, um bei dir bleiben zu können. Wenn du dich mehr mit deinem Atem auseinandersetzen und neue Routinen entwickeln möchtest, findest du auf meiner Webseite in zahlreichen Blogartikeln weitere Inspirationen. Wenn du nicht weißt, wo du beginnen sollst, kann ich dir die folgenden beiden Einführungsartikel zu Breathwork empfehlen

Gemeinschaft nutzen

Und zum Schluss: Vergiss nicht, du bist nicht allein! Finde die Menschen, die auf deiner Seite sind und mit denen du dich über deine Gefühle und Ängste austauschen kannst. Nutze deine Lieben zum Co-Regulieren – und um gemeinsam aktiv zu werden.

Von der Selbstfürsorge zum aktiven Engagement

Während es einerseits wichtig ist, dass wir auf uns und unsere Bedürfnisse in dieser herausfordernden Zeit achten, ist es gleichzeitig auch wichtig, dass wir uns nicht zuhause verstecken.

Hier müssen wir außerdem einen wichtigen Unterschied machen: zwischen notwendigen Pausen und Vermeidung. Eine Pause dient der Regeneration und hilft uns, neue Kraft zu sammeln. Vermeidung hingegen entspringt der Angst und hält uns davon ab, uns wichtigen Themen zu stellen.

Mit diesem Abschnitt spreche ich vor allem die Menschen in meiner Community an, die wie ich weiß und cis-gender sind und ein von strukturellen Privilegien gefördertes Leben führen. Es ist wichtig, dass wir uns nicht auf unseren Privilegien ausruhen!

Wenn wir Kapazitäten haben, sollten wir einen Teil davon nach außen bringen. Das Wahlergebnis in den USA wird sehr wahrscheinlich einen (negativen) Einfluss auf die Rechte von Frauen, queeren Personen und Menschen marginalisierter Gruppen überall auf der Welt haben. Auch die vorgezogenen Bundestagswahlen bergen Risiken für viele Gruppen unserer Gesellschaft, wenn dabei rechte Parteien noch stärker werden!

An dieser Stelle möchte ich daher noch einige Möglichkeiten mit dir teilen, wie du dich aktiv für eine bessere und sicherere Welt einsetzen kannst.

Privilegien erkennen und nutzen

Falls du das Gefühl hast, dass du dich durch die Ereignisse der vergangenen Woche nicht betroffen fühlst, lade ich dich ein, deine eigenen Privilegien zu überprüfen. Privilegien sind Vorteile, die uns aufgrund bestimmter Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder sozialer Status automatisch zufallen – nicht durch unsere Leistung, sondern durch die Strukturen unserer Gesellschaft. Diese Privilegien sind keine Schuld, sondern eine Verantwortung. Nutze deine Stimme, deine Ressourcen und deine Position, um anderen Gehör zu verschaffen.

Räume des Austauschs schaffen

Es ist so wichtig, dass wir in den Austausch gehen und zusammenkommen – gerade jetzt, wo so viele Politiker*innen Spaltung vorantreiben wollen!

Beginne in deinem Umfeld. Frage Menschen marginalisierter Gruppen, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Nimm nicht einfach an, dass es ihnen gut geht oder dass du nichts ändern kannst an ihren Situationen. Auch wenn wir als Einzelperson nicht das große System verändern können, ist es wichtig, dass wir Räume öffnen und Menschen die Chance bekommen, gesehen und gehalten zu werden.

Und dann gehe weiter und schaffe Begegnungsräume. Organisiere Treffen in deiner Nachbarschaft, wo Menschen sich austauschen und vernetzen können. Manchmal braucht es nur einen sicheren Raum und eine Person, die den ersten Schritt macht.

Politisches Engagement & Unterstützung wohltätiger Organisationen

Es gab nie einen besseren Zeitpunkt, sich politisch einzusetzen! Das kann in Form einer Mitgliedschaft in einer (demokratischen) Partei sein, durch die Teilnahme an Demonstrationen oder durch das Starten und Unterstützen von Petitionen.

Zudem gibt es viele Organisationen, die wichtige Arbeit leisten und (finanzielle) Unterstützung brauchen – jetzt mehr denn je. Finde die Organisationen, die am ehesten deinen Werten entsprechen und sich für Anlässe einsetzen, die dir am Herzen liegen.

Reflexionsfragen für deinen eigenen Weg

Zum Ende dieses sehr langen Artikels (danke, dass du bis hierher gelesen hast!) möchte ich dich einladen, dir einen Moment Zeit zu nehmen und über folgende Fragen nachzudenken:

  • Wie gehst du aktuell mit den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen um?
  • Welche Formen der Selbstfürsorge geben dir besonders viel Kraft?
  • Wo spürst du den Unterschied zwischen einer nötigen Pause und Vermeidung?
  • In welchen Bereichen möchtest du dich mehr engagieren?
  • Was brauchst du, um aktiv zu werden und dabei gleichzeitig gut für dich zu sorgen?

Und schließlich noch eine Erinnerung: Es geht nicht darum, dass du alles, was ich hier aufgelistet habe, aufgreifst und versuchst zu übernehmen. Wir alle haben unterschiedliche (zeitliche, räumliche und finanzielle) Ressourcen. Schaue, wo du deine Ressourcen am besten einsetzen kannst! Wichtig ist nicht, das eine Person alles machst, sondern dass möglichst viele Personen aktiv werden – in möglichst vielen unterschiedlichen Bereichen.

Lass uns gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Welt ein sicherer Ort für alle Menschen wird. Denn nur gemeinsam können wir etwas bewegen.

Wie gehst du mit den aktuellen Herausforderungen um? Welche Formen der Selbstfürsorge helfen dir besonders? Ich freue mich auf deinen Kommentar und unseren Austausch.

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
12.11.24
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